Die (un)verdaute Erinnerung an die Option 1939
Von Eva Pfanzelter
Erinnerung und Regionalismus
Die Kategorien „Geschichte und Erinnerung“ sind nach beinahe drei Jahrzehnten Erinnerungsforschung mittlerweile auch regional, national, trans- und international zu „leitenden Denkfiguren“ aufgerückt. Damit einher geht eine intensive Musealisierung der rezenten Vergangenheit. Geschichte wird dadurch zu einem (Medien)erlebnis und Geschichte dient damit verschärft nationaler Sinnstiftung bzw. Identitätsbildung. Aufgrund der Dominanz „gemeinschaftlicher Großgedächtnisse von Völkern, Nationen oder Religionsgemeinschaften“ besteht jedoch die Tendenz zu „nationaler“ Vereinnahmung lokaler und regionaler Erinnerungsgruppierungen. Gibt es aber in Italien genügend Hinweise für ein Fehlen einer gemeinsamen nationalen Erinnerung, so gilt dies in mehrfachem Sinne für Südtirol, wo Ethnizität als teilendes, trennendes Element hinzukommt. Die Gedächtnislandschaft Südtirols ist somit eines der zahlreichen Beispiele dafür, dass regionale Erinnerungskulturen von den nationalen Meistererzählungen bedingungslos abweichen.
Das deutschsprachige Südtirol schreibt im föderalistischen Italien denn auch durchaus eine „Separatgeschichte“ und weist eine spezifisch regionale Erinnerungskultur auf, die sich markant von jener der Nation, aber auch von jener der ehemaligen Schwesterregion, des Bundeslandes Tirol, oder gar des ehemaligen Vaterlandes Österreich unterscheidet. Im Spannungsfeld zwischen dem „Europa der Regionen“ und der „Globalisierung“ hat diese separate Erinnerungsgeschichte Südtirols zudem immer gezielt geschichtspolitische Funktionen.
Diese zeigt sich unter anderem an der Wirkungskraft von Denkmälern und Symbolen und an der wechselnden geschichtspolitischen Instrumentalisierung. An den historischen Symbolen werden Fragen nach Identitäten gestellt und Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten aufgezeigt, werden Abgrenzungen und Reibungspunkte der drei Ethnien in ihrem Selbstverständnis und ihren Werten gemacht. Damit werden diese Symbole bzw. Erinnerungsorte für alle Sprachgruppen identitätsstiftend. Gerade der Fokus auf die Erinnerung zeigte aber auch, wie sehr sich das kollektive Gedächtnis der deutsch-/ladinischsprachigen von jenem der italienischsprachigen SüdtirolerInnen unterscheidet. Für die deutschsprachige Erinnerung gilt es indes, die Herausbildung einer eigenen Geschichtsschreibung (Georg Grote bezeichnet sie einmal als „Nationalhistoriografie Südtirols“) festzustellen. In ihr spielt der Opferdiskurs eine zentrale Rolle: Dieser untermauert die Herausbildung einer separaten Identität, im Sinne einer „Abgrenzungsidentität“, und definiert sich durch das eigene Leiden, für das Italien als Nation und der Faschismus als Regime verantwortlich zeichnen.
Im kollektiven Gedächtnis wird die Erinnerung der deutschsprachigen Minderheit seit jeher vom emotional belasteten Narrativ des heroischen Opfers im Ersten Weltkrieg und der darauf folgenden ungerechten Behandlung durch den Faschismus bestimmt. Noch tiefer verankert im kollektiven Gedächtnis ist allerdings die Option, wie Günther Pallaver meint: „Sie ist mit tieferem Unbehagen verbunden, tat (zumindest den Betroffenen) weit mehr weh, als die Folgen der Niederlage des Ersten Weltkrieges. Die Option schmerzt(e) mehr, weil sie im Gegensatz zum Trauma von 1918 nicht von außen kommend war, sondern selbst gemacht war. Sie äußerte sich dramatischer, physisch, vor allem aber psychisch gewaltsamer, weil es eine Auseinandersetzung unter den ‚Eigenen‘ war. Innerhalb weniger Tage war ein zwanzig Jahre lang gepflegtes, zur Norm erhobenes Bewusstsein der ‚Schicksalsgemeinschaft‘ demoliert und zerstört worden.“
Die Erinnerung an die Option
Die Erinnerung an die Option hat sich indes in den letzten Jahrzehnten signifikant verändert. (Die vorliegende Analyse muss sich dabei auf die Erinnerungskultur der deutschsprachigen Minderheit in Südtirol beschränken – eine Analyse der italienischen Erinnerung an die Option nimmt Carlo Romeo vor, eine Arbeit zu den kollektiven Gedächtnissen der LadinerInnen ist derzeit aber noch ein Desiderat.)
1. Vereinheitlichung und Politisierung – die 1950er und 1960er Jahre
Unmittelbar nach Kriegsende, Anfang Mai 1945, war die deutschsprachige Minderheit in Südtirol durch Option und Mit-/Täterschaft seit 1939 bzw. spätestens seit dem 8. September 1943 zutiefst gespalten. Bedingt durch die Belastung der OptantInnen, waren es nun aber die DableiberInnen, die die politische Vertretung übernahmen und sozusagen über Nacht die tiefen Gräben der vergangenen Jahre zuschütteten. Sehr rasch folgte die Zivilgesellschaft dem Diktum der Partei, nur gemeinsam für eine Selbstbestimmung kämpfen zu können. Die Kirche und die monopolisierte Medienlandschaft spielten in der Konstruktion des Entlastungsdiskurses eine entscheidende Rolle. Danach gab es selbst für ehemalige NS-FunktionsträgerInnen keine Hindernisse für einen reibungslosen Übergang in die Nachkriegszeit.
Die italienische Politik hingegen nutzte die Optionsabkommen als Faustpfand für die Friedensverhandlungen und in den Verhandlungen mit der Minderheit. Die Staatenlosigkeit der rund 210.000 Deutschsprachigen wurde damit reell zum Damoklesschwert und bedingte die Konstruktion der Südtiroler Opferthese mit. Sie konstituierte sich schließlich im Interesse nicht nur der politischen Eliten des Landes: Die deutschsprachige Minderheit wurde zum Opfer zweier Diktaturen stilisiert, die Option wurde zum Ergebnis von zwei Jahrzehnten faschistischer Unterdrückung. Der Entlastungsdiskurs blendete die eigene braune Vergangenheit konsequent aus. Diente der Opferdiskurs zunächst der geschlossenen Forderung nach Selbstbestimmung, legitimierte er später die Autonomie. Immer aber enthielt er die Notwendigkeit der Behauptung gegen Italien – also gegen den italienischsprachigen Staat und die italienischsprachige Minderheit in Südtirol, die ihn verkörperte.
Der Opferdiskurs blieb jedoch nicht gänzlich unwidersprochen. Zu nennen sind hier prominent Hans Egarter und Silvio Flor und, weniger bekannt, die ProtagonistInnen der anhaltenden Konflikte vor allem in den ländlichen Gemeinden des Landes. Bald aber verstummten die Stimmen von DableiberInnen, Deserteuren, Gefängnis- und Lagerhäftlingen – oder anders gesagt: Danach war die Auseinandersetzung um Täterschaft von SüdtirolerInnen maximal in dörflichen Zusammenhängen möglich. Zeugenschaft war nicht gewünscht. Es ging um die „Konstruktion eines bereinigten und homogenen Geschichtsbildes“.
Möglich war der Opferdiskurs, weil er auf italienischer Seite und jenseits des Brenners auf seine Entsprechung traf: Österreich schlüpfte, entschuldigt durch die Alliierten, in die Rolle des „ersten Opfers des nationalsozialistischen Deutschlands“. Italiens Status als „cobelligerent“ der Alliierten verhinderte eine Entfaschisierung ebenso wie eine Entnazifizierung. Während sich die Italienischsprachigen im Befreiungsdiskurs der Resistenza wiederfanden, taten dies die Deutschsprachigen im Opferdiskurs der Option. Die SVP schluckte stillschweigend ehemalige Nationalsozialisten in ihren Reihen, die Democrazia Cristiana die ehemaligen Faschisten – und auch hier gibt es zahllose Parallelen zum Bundesland Tirol.
2. Kontroverse und Verwissenschaftlichung – die 1970er und 1980er Jahre
Der unter der Chiffre „1968“ subsumierte, alle gesellschaftlichen und politischen Bereiche erschütternde Wandel der 1960er/1970er Jahre erfasste mit einiger Verzögerung auch die Peripherie und damit Südtirol. Auch hier begann eine kritische Generation, Fragen an die Wehrmachtsjahrgänge zu stellen. Die politische Grundlage für einen vorsichtigen Pluralismus legte das Zweite Autonomiestatut von 1972.
Zu nennen sind in den folgenden Kontroversen viele Namen: Unter der Feder des Journalisten und Zeithistorikers Claus Gatterer begann das gängige Geschichtsbild Ende der 1960er erstmals zu wanken. Sein 1969 publiziertes „Schöne Welt, böse Leut“ und das 1976 von Joseph Zoderers veröffentlichte „Glück beim Händewaschen“ erfanden die Option sozusagen literarisch. Leopold Steurer fordert in seiner Disseration 1976 (1980 als Buch „Südtirol zwischen Rom und Berlin 1919-1939“ erschienen) die Verantwortung der deutschsprachigen SüdtirolerInnen für die eigene braune Vergangenheit ebenso ein, wie jene der im Lande lebenden ItalienerInnen. Ende der 1970er Jahre erreichte mit Reinhold Iblackers „Keinen Eid auf diesen Führer. Josef Mayr-Nusser – Ein Zeuge der Gewissensfreiheit in der NS-Zeit“ die Kritik auch die kirchlich-konservativen Kreise.
Hinter diesen Ereignissen stand die Diversifizierung der massenmedialen Angebote im Land. Neben der „Dolomiten“ erschien ab 1978 die „Südtiroler Volkszeitung“ (1981 in „Tandem“ umbenannt), die FF wurde 1980 geboren. Daneben wurden die Aktionen und die Beiträge einiger kritischer JournalistInnen im RAI-Sender Bozen zu entscheidenden Triebkräften der Wende: beispielhaft genannt seien Gerhard Mumelter und Gerd Staffler. Austragungsort zahlreicher Debatten wurde auch der von Rainer Seberich und Franz von Walther ins Leben gerufene „Skolast“. Gestärkt durch diesen Rückenwind der Südtiroler Hochschülerschaft und angefacht durch das medial unterstützte, konservative Establishment auf der anderen Seite, folgte ein beinahe zehn Jahre dauernder Schlagabtausch in den Printmedien und in Radio- und Fernsehausstrahlungen des erst jungen RAI Senders Bozen. Die Südtiroler Zeitgeschichte – und vornehmlich die Option – wurden damit ab 1975 ein öffentlich politisches Thema.
Dennoch bewiesen konservative, die Opferthese vertretende Gesellschaftsgruppierungen durchgehend bis in die erste Hälfte der 1990er Jahre Beharrungsvermögen. Mediales Fundament der konservativen Wortführerschaft war vor allem die Tageszeitung „Dolomiten“ mit Chefredakteur Josef Rampold. Für die meist heftigen und polemischen Diskussionen der 1980er Jahre in den „Dolomiten“ bot sich das Forum der Leserbriefe an, das Auftrittsmöglichkeiten für starke Bekenntnisse zur NS-Ideologie schuf, wie es die Polemiken und kritiklosen Unterstützungen der Publikationen von Alfons Gruber („Südtirol unter dem Faschismus“ 1974), Othmar Parteli (1988, Südtirolband der „Geschichte des Landes Tirol“) und Willi Acherer („… Mit seinem schweren Leid …“ 1986, es ist als radikal nationalistisch einzustufen) sowie in den Reaktionen auf Steurers, Verdorfers und Pichlers „Verfolgt, verfemt, vergessen“ 1993 zeigen.
Die zentralen zeitlichen „Erinnerungsorte“ dieses Jahrzehnts sind hierbei einmal das Volkszählungsjahr 1981 mit Alexander Langer das „Initiativkommitee gegen die Option 1981“und dann das Gedenkjahr 1989. Den Auftakt einer Zeit heftiger Dispute, in der nun breite Bevölkerungsschichten vom Geschichtsdiskurs erfasst wurden, bildete allerdings eine Aussage Reinhold Messners im italienischen RAI-Uno-Interview 1981 („Penso che nessun popolo ha tradito tanto la ‚Heimat‘ come gli altoatesini“). Auch in der Literatur wurde die Optionszeit in den 1980er Jahren zum „Modethema“. In zahlreichen (Auto)biografien, Theaterstücken und Romanen kamen zunächst die DableiberInnen, danach die OptantInnen zu Wort. Erst relativ spät allerdings äußerte sich mit Franz Thalers „Unvergessen“ ein Deserteur zu Wort. Daneben gibt es in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre auch die ersten wissenschaftlichen Oral History-Projekte: Zu nennen sind hier Martha Verdorfer, Alessandra Zendron und Piero Agostini.
Der Höhepunkt des „Aufarbeitungsjahrzehnts“ war sicherlich das Jahr 1989, in dem sich die Option zum 50. Mal jährte. Mit der Ausstellung „Option – Heimat – Opzioni“, die schließlich von rund 30.000 Personen besucht wurde und mit Felix Mitterers Film „Verkaufte Heimat. Eine Südtiroler Familiensaga“ verließ die Option definitiv den wissenschaftlichen Beschäftigungsrahmen und wurde Teil des Gesellschaftsdiskurses.
Die 1980er-Jahre waren also die Jahre des kritischen Diskurses, in denen letztlich das historische Bewusstsein der Südtiroler Gesellschaft entschieden verändert wurde und somit auch die kollektive Erinnerung eine tiefe Prägung erfuhr. Jedenfalls lässt sich festhalten: Wenn die unmittelbaren Nachkriegsjahrzehnte die Zeit des Vergessens waren, so waren die 1970er und 1980er die Zeit des Erinnerns. Die Südtiroler Gesellschaft war eingetreten in eine Aufarbeitungsphase.
3: Historisierung, chauvinistischer Patriotismus und Banalisierung – die 1990er Jahre bis heute
Die Umbrüche des Jahres 1989 entfernten zwar die jahrzehntealten Tabus gegenüber der Kriegserinnerung, doch gleichzeitig entstanden neue Mythen und Miss-Interpretationen, häufig über die Zeit nach 1945: Nun drängen die vielen gesellschaftlichen und politischen Kontinuitäten – und dazu gehören auch die ungebrochenen Karrieren von Mit-/TäterInnen –, die unvollständigen Demokratisierungen, die Widerstands-Gründungsmythen einhergehend mit „gescheiterten“ Entnazifierungen und die Erinnerungs-/Opferkonkurrenzen ins kollektive Gedächtnis. Paradoxerweise führte das Brechen der Tabus von 1989 auch dazu, dass jene, die eine „andere Version“ der Geschichte erzählen, wieder salonfähig wurden und werden: Holocaust-Leugnung, radikaler Nationalismus und neuer Rechtsradikalismus.
Was die Option betrifft, so ist das wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Interesse an ihr auch nach 1989 ungebrochen: Es ist eine Flut an Aufarbeitungsliteratur zu verzeichnen. 1989 ist daher vielmehr als Wendejahr, denn als Höhepunkt einzustufen. In den nachfolgenden Jahrzehnten werden unzählige regionalhistorische Aspekte der faschistischen und nationalsozialistischen Ära aufgearbeitet, – wie sich beispielsweise auch anhand einer in unserem Projekt erstellten Literaturdatenbank zeigen lässt.
Doch auch jenseits von Publikationen hat die Aufarbeitung der 1980er Jahre Folgen. Und die Bilanz, die sich ziehen lässt, ist beeindruckend: Die Errichtung der Arbeitsgruppe Regionalgeschichte, die Zeitschrift „Geschichte und Region/storia e regione“, auf Schloss Tirol der zeitgeschichtlichen Parcours mit dem „Sonderthema Heimkehrer Option“, Umbenennung des Raimund von Klebelsberg Gymnasiums in Bozen, die „Erinnerungsorte“ an die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung und neuerdings die Stolpersteine in Meran und Bozen. Wenn man so will, können auch die Erstellung eines sprachgruppenübergreifenden Geschichtsbuches für die Oberschulen oder die Eröffnung des Zentrums für Regionalgeschichte der Universität Bozen mit Sitz in Brixen und die historische Kontextualisierung des Siegesdenkmales in der Krypta des Gebäudes als langfristige Auswirkungen des Aufarbeitungsjahrzehnts interpretiert werden.
Dennoch ist es unbestreitbar, dass die Option eine Historisierung erfahren hat, auch wenn die Brüche bis heute nicht gänzlich verheilt sind: Abhängig von der persönlichen Betroffenheit sind die Verwerfungen der Vergangenheit immer noch da, doch zu einem großen Teil blicken ZeitzeugInnen heute sine ira et studio auf die Ereignisse der damaligen Zeit zurück. Dagegen ist allerdings auch zu konstatieren, dass die Opferthese gesellschaftlich überlebt hat. Und nicht nur das: Der öffentliche Umgang mit der faschistischen bzw. NS-Vergangenheit ist bis heute keineswegs ein vorbehaltloser und kritischer. Die ewig gleichen Praktiken der Vertuschung, Umdeutung und Verharmlosung blieben gesellschaftlich an der Tagesordnung, wie jüngst erst die Diskussionen um die Aufarbeitung der Geschichte der Heimatkulturvereine (von Musikkapellen über Trachtenvereinen bis zu Schützenkompanien) zeigen.
Die Erfolgsgeschichte wird daher auch durch den seit den frühen 1990er Jahren wachsenden Neofaschismus der Italienischsprachigen bzw. radikalen Ultrapatriotismus der Deutschsprachigen getrübt. Beide rechtspopulistischen Lager instrumentalisieren seit gut drei Jahrzehnten die Südtiroler Zwischen-/Kriegsgeschichte. Die deutschsprachigen anti-elitären und anti-pluralistischen Parteien greifen dabei, leider erfolgreich, auf einen rückwärtsgewandten Geschichtsjargon zurück: Südtirol wird danach – wieder – auf die 1939 propagandistisch hochgeschaukelte Trennung zwischen „deutsch“ und „walsch“ reduziert.
In ganz anderer Weise reaktiviert wurde die Südtiroler Opferthese in den letzten Jahren ferner in hoch finanzierten Fernseh-Dokumentationen (z.B. Anita Lackenbergers und Gerhard Mader 2006 „Heimat verloren – Heimat gewonnen? Spurensuche zur Option der Südtiroler 1939“, besonders aber Birgit Mosser Schuöcker 2009 „Südtirol: Überlebenskampf zwischen Faschismus und Option“). Diese Banalisierung und einseitige Darstellung der Option sind Rückgriffe auf längst vergessen geglaubte Argumentationsmuster. Die Dokumentation erntete dann nicht nur vernichtende Kritik von Südtiroler HistorikerInnen, sondern auch durch die Tageszeitung „Dolomiten“, was somit auch hier einen Generationenwechsel symbolisierte.
Die Banalisierungen, Umdeutungen, Relativierungen und rechtsnationalen Einfärbungen der geschichtlichen Ereignisse blühen vor allem im Internet (worauf hier nicht näher eingegangen werden kann). Beispielsweise sei lediglich auf den deutschsprachigen Wikipedia-Artikel zur Südtiroler Option oder die Darstellung „Südtirol 1919 bis 1945“ des Tiroler Heimatpflegevereins im Tiroler Schulnetz hingewiesen.
Fazit
Die Option hat jedenfalls, so der Befund der Untersuchung, einen zentralen Stellenwert in der Erinnerungskultur – zumindest – der deutschsprachigen Minderheit. Doch weder bei den faschistischen Relikten noch in den Südtiroler Landesmuseen oder auch an anderen „Lieux de mémoire“ im Pierre Nora’schen Sinne gibt es eine ausprägte Denkmalkultur für die Umsiedlung von 1939.
An dieser Feststellung setzt ein am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck angelegtes, vom Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank finanziertes Projekt „Die Südtiroler Option 1939: Rezeption, Erinnerungs- und Erfahrungsgeschichte(n), museale Darstellung“ an. Dort geht es einmal darum, Vorhandenes zu sammeln: Ein Team von jungen HistorikerInnen (Mag.a Elisa Heinrich, Mag.a Sabine Merler MA, Hansjörg Stecher BA) erfassen seit März 2013 wissenschaftliche Literatur und Belletristik, filmische Beiträge, Dokumentationen, Ausstellungen und Sonderschauen, Websites und Blogbeiträge zu Option und zur Erinnerung daran. Einen besonderen Fokus stellte im ersten Projektjahr zudem Oral History-Material dar: Nachdem zunächst bisherige ZeitzeugInnen-Projekte gesucht wurden, führte das Team in Zusammenarbeit mit den Vereinigten Bühnen Bozen (VBB) 70 Interviews mit ZeitzeugInnen der Jahrgänge 1913 bis 1962 (mehr dazu in anderen Projekten) durch.
In dem Projekt stellen wir gezielt die Frage nach den Erinnerungslandschaften der Umsiedlung im kollektiven Gedächtnis der deutschsprachigen SüdtirolerInnen und hinterfragen, warum gerade diesem Ereignis kaum steinerne Denkmäler geschaffen wurden. Gründe dafür gibt es zahlreiche, doch drängen sich, so lautet die These dieses Beitrages, vor allem zwei in den Vordergrund: Einerseits lebt die Opferthese – also die Option als kollektiv erlebter Schicksalsschlag fremder Mächte bzw. des Schicksals – auch unter Billigung von DableiberInnen und Ausgewanderten – im kollektiven Gedächtnis der deutsch-/ladinischsprachigen SüdtirolerInnen immer noch weiter bzw. wieder. Andererseits ginge mit öffentlichen Mahnmalen an die Option eine permanente Auseinandersetzung mit der eigenen faschistischen und nationalsozialistischen Vergangenheit – der Täterschaft aller drei Sprachgruppen – einher; sie bedeutete, was der deutsche Historiker Christian Meier forderte: „Arbeit an der Vergangenheit, die es mit dem Gros, nicht nur mit den Hauptschuldigen zu tun hat“. Eine Vergangenheitsbewältigung dieser Art ist freilich mutig, aber auch „verteufelt schwierig, nicht nur, weil sie Selbstkritik bedeutet“. Viel einfacher ist es, auf das eigene vermeintliche Heldentum, das eigene Märtyrertum und auf die braune respektive schwarze Vergangenheit des jeweils anderen zu zeigen.
Vor wenigen Tagen erreichte die Verfasserin dieses Beitrages eine E-Mail eines jungen Südtiroler BWL-Studenten an der Universität Innsbruck. Er fragte unhöflich und provokant „Was ist das Schöhne an der Zeitgeschichte?“ (Schreibweise im Original), um daraufhin in weiteren drei Zeilen, gespickt mit Rechtschreib- und Grammatikfehlern, von ihr eine Erklärung über die Selbstbestimmung für Südtirol einzufordern. Nachdrücklich drängten sich Gesprächsfetzen mit den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen der Option auf, in denen sich die Erlebnisgeneration von 1939 daran erinnerte, dass die Optantinnen und Optanten 1940 schnell in Deutschkurse gedrängt wurden, damit sie zumindest ein wenig jener Sprache erlernten und etwas von jener Kultur wussten, nach der sie sich zwei Jahrzehnte lang gesehnt hatten, sollten sie schließlich über den Brenner ins Deutsche Reich auswandern. Die Identifizierung mit dem, was die Auswandernden jenseits der Grenze schließlich vorfanden, gelang selten, doch blieb das „Deutsche“ – wo immer es auch sein mag – offensichtlich bis heute eine „Sehnsuchtsheimat“ vieler Südtirolerinnen und Südtiroler.
Dass dies oft zu unkritischen Wiedergaben und zur Wiederbelebung althergebrachter Geschichtsinterpretationen dient, zeigt auch die geplante Plakataktion des Südtiroler Schützenbundes. So löblich das Ansinnen, mittels dieser Bilder die Erinnerung an 1939 wachzurütteln, auch erscheinen mag, so ist die bewusst fehlende Kontextualisierung doch als bedenklich einzustufen, wie sicherlich auch Kollegin Margreth Lun zustimmen würde: Mindestens drei der Bilder sind Propagandabilder, gemacht von und instrumentalisiert durch die Nationalsozialisten 1940, um für die Option 1940 Stimmung zu machen. Eines der Bilder, nämlich jenes der essenden Mutter mit den drei kleinen Kindern, ist hier gänzlich falsch zugeordnet: Es handelt sich nachweislich um das Bild einer italienischen Zwangsarbeiterfamilie auf ihrem Rücktransport von Deutschland nach Italien im Innsbrucker Lager Reichenau (einsehbar im Katalog der National Archives in Washington DC).
Sind wir wirklich wieder dabei, die letzten vier Jahrzehnte der Aufarbeitung beiseite zu wischen und aus Unwissenheit oder Desinteresse auf Geschichtsbilder zurückzugreifen, die längst begraben schienen? Es geht hier nicht um eine Abrechnung mit den Schuldigen, die „ist – fast – erledigt“, so der deutsche Kulturwissenschaftler Christian Meier. Es geht vielmehr darum, dass sich ganze Gesellschaften das Ausmaß der eigenen Handlungen permanent vor Augen halten und jede und jeder weiß, dem Schiedsspruch der Zukunft zu unterliegen. In Südtirol gehört dazu auch die endgültige Überwindung der Opferthese und das Eingestehen der braunen bzw. schwarzen Vergangenheit der Südtiroler Vorfahren. Oder wie Imre Kertész in seiner einzigartigen Holocaust-Darstellung meinte: „… alles was es brauchte, war, es zuzugeben, widerspruchslos, schlicht, bloß als eine Sache der Vernunft, eine Ehrensache …“. Die nachfolgenden Generationen in Südtirol werden wohl darüber entscheiden, ob wir das getan haben.
Das Innsbrucker Projekt soll damit ein Ansporn für einen offenen Umgang mit diesem Kapitel der Südtiroler Geschichte für die zivilgesellschaftlichen Eliten und für die Jugend im Lande sein.