Stefan Lechner – Vergessen?

Vergessen? Kranke und alte Südtiroler Umsiedler

Von Stefan Lechner

Vor ca. einem Jahr konnte ich in einem Vinschgauer Altersheim einen älteren Herrn besuchen. Herr G. ist Jahrgang 1919, erfreut sich guter Gesundheit und feiert in zwei Wochen seinen 95. Geburtstag. Bei Herrn G. handelt es sich um einen der letzten, vielleicht sogar um den allerletzten Südtiroler, der Südtirol aus Krankheitsgründen im Zuge der Option verlassen hat. Er war ein sogenanntes lediges Kind und galt als „geisteskrank“. Herr G. und wohl auch seine Mutter glaubten, im „Reich“ würde er in spezialisierten Einrichtungen eine Ausbildung erhalten und sein zeichnerisches und gestalterisches Talent gefördert werden. Es sollte anders kommen. Sein Weg führte ihn 1941 zunächst in die Psychiatrisch-Neurologische Universitätsklinik nach Innsbruck, dann in die Heil- und Pflegeanstalt Hall und schließlich in die Heil- und Pflegeanstalt Bad Schussenried in Südwürttemberg. Er war von der Zwangssterilisation bedroht, im Gegensatz zu vielen anderen überlebte er jedoch die NS-Zeit. Erst in den frühen 80er Jahren kam er wieder in den Vinschgau zurück.

In zweifacher Hinsicht handelt es sich bei der Lebensgeschichte dieses Herrn um eine im Grunde untypische im Zusammenhang mit der Umsiedlung der alten und kranken Südtiroler, um die es hier geht. Untypisch deshalb, da erstens Herr G. aus freien Stücken die Heimat verlassen wollte, um, wie er sagte, etwas zu lernen, und zweitens, weil er – spät aber doch – den Weg zurück nach Südtirol gefunden hat.

In diesem Vortrag geht es um die „Absiedlung“ von alten, psychisch kranken und pflegebedürftigen Südtirolern im Rahmen der Durchführung der Option von 1939. Absiedlung finde ich den treffenderen Begriff als den gemeinhin üblichen der Umsiedlung, da das Verlassen der Heimat im Gegensatz zum eben geschilderten Fall häufig unfreiwillig erfolgte. Der Blick auf die Absiedlung erfolgt vor der Folie der Erinnerung oder Nicht-Erinnerung, des Vergessens und auch Verdrängens. Auch ein kurzer Abstecher in die Wissenschaftsgeschichte sei mir gestattet.

Genaue Zahlenangaben zu den Absiedlungen liegen nicht vor, es sind nur Schätzungen möglich. Ca. 2000 alte und pflegebedürftige Menschen sind abgewandert, ca. 1000 psychisch Kranke. Es handelt sich also um eine zahlenmäßig durchaus beachtliche Gruppe. Dazu kommen noch Tbc-Kranke und Taubstumme, im Folgenden geht es aber hauptsächlich um psychisch Kranke.

Die meisten dieser Menschen wurden in Krankentransporten in das Deutsche Reich verbracht. Am 26. Mai 1940 wurden etwa rund 299 Südtiroler Psychiatriepatienten aus dem Psychiatrischen Krankenhaus Pergine Valsugana nach Zwiefalten in Südwürttemberg verlegt, wenige Tage darauf kamen über 100 Bewohner aus acht Südtiroler Versorgungshäusern nach Oberammergau in Bayern. Am 2. August 1940 wurden noch einmal 239 alte Menschen über den Brenner verschickt.

Der sogenannte Pergine-Transport stand am Beginn des Krankentransfers. Er wurde von reichsdeutschen und italienischen Behörden in aller Eile vorbereitet, die Deutschlandoption der Patienten war vom rechtlichen Gesichtspunkt gesehen vielfach mehr als zweifelhaft. Die meisten dieser Südtiroler waren Langzeitpatienten.

Die Umsiedlungen der Südtiroler hatten normalerweise einen bestimmten bürokratischen Ablauf einzuhalten. So war ein Abwanderungsantrag bei der Amtlichen Deutschen Ein- und Rückwandererstelle ADERST zu stellen, bei der Präfektur Bozen war um die Entlassung aus dem italienischen Staatsverband anzusuchen usw. Wichtig war auch die Tätigkeit der Dienststelle Umsiedlung Südtirol beim Reichsstatthalter und Gauleiter von Tirol-Vorarlberg, der u. a. die Vergabe der deutschen Staatsbürgerschaft oblag.

All diese bürokratischen Verfahren hatten üblicherweise vor der Abwanderung zu erfolgen. Bei den Patienten aus Pergine war dies in vielen Fällen auf Grund der eiligen Abwicklung nicht möglich gewesen. Die deutschen Behörden, sprich die ADERST in Südtirol und die Dienststelle Umsiedlung Südtirol in Innsbruck, die auf ein technisch-bürokratisch korrektes Verfahren Wert legten, versuchten nun im Nachhinein, bestimmte Papiere in Ordnung zu bringen. Besonders wichtig war der Abwanderungsantrag, der zugleich das Ansuchen um die Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft war. Da die psychisch Kranken entmündigt waren, sollten und mussten Angehörige den Abwanderungsantrag unterschreiben. Diese mussten nun ausgeforscht werden, was Aufgabe der Arbeitsgemeinschaft der Optanten für Deutschland, der ADO war. Anhand der Liste der Transportteilnehmer ging diese bald an die Arbeit. Trotz aller Anstrengungen war es ihr jedoch nicht möglich, Angehörige für sämtliche Patienten auszuforschen. Bei ca. einem Sechstel der Patienten war dies der Fall.

Dies lässt darauf schließen, dass nicht wenige psychisch kranke Südtiroler bereits in der Zwischenkriegszeit im Psychiatrischen Krankenhaus Pergine von ihren Angehörigen regelrecht vergessen wurden, um sie hat sich niemand gekümmert, sie wurden allein gelassen. Pfleger in Pergine erinnerten sich später, „daß es zwischen den Patienten und den Familien kaum, in einigen Fällen gar keine Kontakte gab, daß die Kranken von ihren Verwandten keine moralische Unterstützung erhielten und ganz einfach im Stich gelassen worden waren.“1 Das Stigma der Psychiatrie, vielleicht auch finanzielle Gründe können dafür verantwortlich gemacht werden.

Ab 1940 wurden neu erkrankte Optanten nicht mehr in Pergine, sondern in der Heil- und Pflegeanstalt Hall bei Innsbruck untergebracht. Hall sollte nach dem ursprünglichen Plan der Dienststelle Umsiedlung Südtirol jedoch nicht als Aufnahmeanstalt fungieren, denn der Gau Tirol-Vorarlberg wollte unter keinen Umständen die nach damaligem Sprachgebrauch „minderwertigen Volksgenossen“ aufnehmen, während man am „hochwertigen Menschenmaterial“, zu denen man insbesondere Bergbauern rechnete, sehr interessiert war. Hall sollte vielmehr nur Durchgangsstation sein, d. h. nach einer vorübergehenden Unterbringung sollten die Südtiroler Patienten nach Südwürttemberg weiterverschickt werden. Dieser Ablauf wurde jedoch nur zum Teil umgesetzt, tatsächlich kam es nur zu drei Transporten von Hall nach Bad Schussenried in Baden-Württemberg. Insgesamt wurden ca. 180 Patienten dorthin transferiert. Wie erfolgte nun die Auswahl dieser Patienten in Hall? Hauptkriterium war der Angehörigenbesuch. D. h., nur jene Südtiroler Patienten in Hall wurden in eine entferntere Anstalt verlegt, die nur selten oder keinen Besuch von ihren Angehörigen erhielten. Ein Besuch war durch den Krieg und die Brennergrenze zweifellos erschwert, jedoch durchaus möglich. Sehr viele Angehörige pflegten sehr enge Kontakte, kamen regelmäßig nach Hall und fragten brieflich immer wieder nach dem Gesundheitszustand des erkrankten Familienmitglieds nach.

Gleich wie in Pergine wurden Südtiroler Patienten aber auch in der Heil- und Pflegeanstalt Hall von ihren Angehörigen allein gelassen.

Vergessen worden sind viele Südtiroler Patienten in den Südwürttembergischen psychiatrischen Krankenhäusern von Zwiefalten, Bad Schussenried und Weißenau. Eine kursorische Durchsicht der dortigen Krankenakten ergab, dass es Patienten ohne jeglichen Angehörigenkontakt gab. Bei vielen erfolgte erst nach Jahren eine Anfrage nach dem Befinden.

Die Anstaltsleitungen verfügten oftmals über nur sehr wenige Informationen zu den Südtiroler Patienten und wussten deshalb oft auch nicht, ob Angehörige vorhanden waren, und wenn ja, wie deren Anschrift lautete. Manches Mal waren dafür auch die Wirren der Umsiedlung verantwortlich. Der Informationsnotstand wurde zum Problem bei zahlreichen Todesfällen, denn die Anstaltsleitungen waren oftmals nicht in der Lage, Angehörige in Kenntnis zu setzen. So passierte es dann, dass sich Angehörige über Jahre verspätet aber doch etwa über den Gesundheitszustand eines Familienmitglieds informieren wollten, die Anstaltsleitung jedoch nur noch das seit längerem erfolgte Ableben mitteilen konnte.

Für dieses Vergessen verantwortlich waren wohl wiederum Vorbehalte und auch Ängste psychisch Kranken gegenüber, wie sie auch heute noch trotz mannigfacher Sensibilisierungskampagnen verbreitet sind, häufig wohl auch ein Gefühl der Schande, der Scham.

Entscheidend waren aber auch die Umstände, unter denen die Absiedlung von kranken und alten Menschen erfolgte. Südtirol war zwar nie Teil des Deutschen Reiches, nach der Option waren die Optanten jedoch de facto einer nationalsozialistischen Herrschaft unterworfen, die hauptsächlich von der ADERST und der ADO ausgeübt wurde. Die ADERST war ein Amt des Reichsführers-SS Heinrich Himmler und somit eine Stelle mit radikaler nationalsozialistischer Weltanschauung. Die ADO-Funktionäre wurden hingegen zu Tausenden im Deutschen Reich auf NS-Ordensburgen und ab 1942 in Südtirol selbst z. B. auf der Schulungsburg Reichrieglerhof oberhalb von Bozen weltanschaulich unterwiesen. Das dabei vermittelte unerbittliche nationalsozialistische Leistungsprinzip sowie rassische und erbbiologische Ideen führten auch in Südtirol zu einer Einteilung in „hochwertige“ und „minderwertige“ Menschen, wie sie in Hitler-Deutschland herrschte. Der Grundsatz des VKS bzw. der ADO, der da lautete „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“, postulierte zwar indirekt die nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ als oberstes Prinzip, in der Praxis waren aber nicht alle Menschen gleich. Diese Selektion sollte weitreichende Folgen für die Umsiedlung haben.

Die ADO versuchte nämlich die Umsiedlung zu steuern und in erster Linie jene Optanten zur ‚Abwanderung zu bringen, die hier nicht haltbar waren, wie z. B. ehemals öffentlich Bedienstete oder Arbeitslose, oder Optanten, die aus volkswirtschaftlichen Gründen als „abkömmlich“ galten.

Neben sozioökonomischen Aspekten waren für die ADO aber auch andere Überlegungen ausschlaggebend, alte und kranke, aber auch „asoziale“ Menschen für die Umsiedlung zu erfassen. Der ADO war es wichtig, die „wertvollen Volksgenossen“ bis zum großen Aufbruch in das versprochene Siedlungsgebiet möglichst im Land zu halten, da diese besonders benötigt würden, um den angestrebten SS-Mustergau zu schaffen. Im Umkehrschluss bedeutete dies, vor allem die „weniger wertvollen“, die vielleicht sogar „minderwertigen“ Optanten (in erster Linie psychisch Kranke und „Asoziale“), sollten zur Absiedlung gebracht werden. Dies galt sowohl in erbbiologischer als auch leistungsökonomischer Hinsicht.

Die ADO nahm – in den verschiedenen Zweigstellenbereichen mit unterschiedlicher Intensität – eine Selektion der Optanten vor. Besonders rigide war man in Meran. Nun war zwar vorgesehen, dass jeder umgesiedelte Optant das Recht haben sollte, in das geschlossene Siedlungsgebiet, sollte es denn einmal festgelegt werden, nachzukommen. Es ist allerdings daran zu zweifeln, dass alte und kranke Menschen in Versorgungsheimen, Krankenhäusern oder psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalten diese Möglichkeit auch wahrnehmen hätten können.

Trotz der ab 1941 einsetzenden und immer mehr an Boden gewinnenden Hoffnung und Erwartung, Südtirol werde schlussendlich doch noch an Hitlerdeutschland angeschlossen werden, wurden unter dem Druck der ADERST Absiedlungslisten erstellt und Kranke und Alte zur Abwanderung vorgeschlagen, und dies, obwohl die Sterberaten unter den Südtiroler Heimbewohnern im „Reich“ mancherorts dramatisch hoch waren.

Die Optanten wurden einem nationalsozialistischen Selektionsprozess unterworfen, dem viele nichts entgegenzusetzten hatten. Die Konsequenz bedeutete oft die Absiedlung. Diese Selektion findet auch Niederschlag im Sprachgebrauch von Zeitzeugen: So heißt es immer wieder, „Geisteskranke“ seien damals „verräumt“ worden, womit man nicht nur die räumlich Verlegung, sondern auch deren physische Vernichtung meinte.

Das nationalsozialistische Grunddenken, bei psychisch Kranken handle es sich um „minderwertige Menschen“, hat, so meine These, zu deren Vergessen wesentlich beigetragen, sie waren gewissermaßen der Erinnerung nicht wert, außerdem konnten für deren Absiedlung nach Deutschland die ADERST und die ADO verantwortlich gemacht werden.

Noch während die Umsiedlung lief, glaubten viele in Südtirol, die abgesiedelten Kranken seien allesamt ermordet worden, was nicht stimmt. Die Südtiroler Umsiedler waren von der „T4-Euthansie“ ausgenommen! Sehr wohl aber überlebten sehr viele aufgrund der katastrophalen Versorgung in Anstalten und Heimen die Kriegszeit nicht. Verschiedene „dezentrale“ Krankenmorde sind nachgewiesen.

Die fälschliche Annahme der Tötung in Folge der Umsiedlung wurde gestützt durch das nationalsozialistische Euthanasieprogramm, das in weiten Kreisen Südtirols bekannt war. Als von den Abgesiedelten längere Zeit keine Nachrichten in Südtirol eintrafen, machten bald Gerüchte von deren Ermordung die Runde.

Selbst die Mordmethode glaubte man zu kennen: So hieß es vielfach, die Leute seien vergast worden. Die Einschätzung, die verstorbenen Alten und Kranken seien gewaltsam ums Leben gekommen, verstärkte sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch, als die Umsiedler nicht mehr in die Heimat zurückkamen. Das allgemeine Bekanntwerden der nationalsozialistischen Verbrechen und das Ausmaß dieser nach Kriegsende mag zur Verfestigung der „Gnadentod“-These beigetragen haben.

Die Annahme, die Alten und Kranken seien der NS-Euthanasie zum Opfer gefallen, hielt sich Jahrzehnte. 1961 schrieb etwa ein Rechtsanwalt im Auftrag einer Angehörigen an das Bürgermeisteramt in Zwiefalten:

Herr […] wurde am 26. 5. 1940 von Südtirol in die Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten transportiert und soll dort am 27. 5. 1940, zusammen mit ca. 300 anderen Anstaltsinsassen, ums Leben gebracht worden sein. Die Toten wurden anschließend in einem oder mehreren Massengräbern beerdigt.“2

Dies ist falsch! Der Grund des Schreibens war ein ökonomischer: Es ging um die Rente der Angehörigen. In zahlreichen Fällen wandten sich Angehörige wegen Renten und Pensionen in der Nachkriegszeit an Anstaltsleitungen. Häufig benötigten sie auch einen Totenschein in Erbschaftsangelegenheiten.

Briefe an die Anstaltsleitungen belegen, dass das Ausmaß des Vergessens mit den Jahren immer weiter zunahm. Zum einen, weil Angehörige starben und mit ihnen auch Erinnerung verloren ging, zum anderen aber auch, weil das Wissen um Patienten in deutschen Heilanstalten in den Familien nicht tradiert wurde. So ist es vorgekommen, dass der Tod eines Patienten noch in der Kriegszeit offiziell Familienangehörigen mitgeteilt wurde, in den fünfziger oder sechziger Jahren sich dann aber andere Familienangehörige, wie z. B. die Nachfolgegeneration, um Auskunft über den Patienten an Anstaltsleitungen wandten.

Wie ist dieses Verschweigen zu deuten? Es drängt sich die Vermutung auf, Scham könnte eine Rolle gespielt haben. Scham über ein krankes Familienmitglied, Scham vielleicht auch darüber, dessen Absiedlung zugelassen vielleicht sogar betrieben zu haben. Dies betrifft auch alte und pflegebedürftige Menschen, insbesondere aber psychisch Kranke. Der Makel der psychischen Krankheit hängt auch mit der vor allem im Nationalsozialismus postulierten, immer noch weit verbreiteten, vereinfachenden und die Verschiedenheit der Krankheitsbilder völlig außer Acht lassenden Annahme der Erblichkeit der psychischen Erkrankungen zusammen. Dazu ein persönliches Erlebnis: Eine Frau, nach ihrer in Hall in der NS-Zeit verstorbenen Mutter befragt, legte zuallererst größten Wert auf die Feststellung, dass ihre Mutter nur auf Grund einer Fehlfunktion der Schilddrüse erkrankt sei, was sich heute medikamentös leicht behandeln lasse. Ihr war es wichtig mitzuteilen, die Krankheit sei in der Familie nicht weitervererbt worden.

Das offizielle Südtirol hat sich in der Nachkriegszeit nicht bemüht, die alten und kranken Umsiedler wieder in ihre Heimat zurückzuholen. Dies trifft sowohl für die Landesverwaltung als auch für die Gemeindeverwaltungen zu. Der Abtransport der Bewohner der Versorgungshäuser war unter aller Augen erfolgt, es waren Fotos gemacht und der Wunsch eines Wiedersehens zum Ausdruck gebracht worden. Nach Kriegsende fragte aber niemand mehr nach dem Verbleib dieser Menschen. Ganz im Gegensatz etwa zu den Kriegsgefangenen!

Im Zuge der Rückoption sind nur wenige Alte und Kranke zurückgekommen, so etwa 20 Senioren aus Polsingen im bayrischen Franken. Einzelne Patienten in deutschen Anstalten pflegten Kontakte mit der Heimat, kamen auch ab und an auf Urlaub, viele hatten aber keine Verbindungen mehr nach Südtirol bzw. die Verbindungen waren durch den Tod der nächsten Angehörigen abgerissen. Viele Südtiroler sind regelrecht vergessen worden, auch weil, wie gesagt, die Meinung weit verbreitet war, sie wären ermordet worden. Anfragen nach den Todesumständen oder dem Vorhandensein einer Grabstelle, die eine fortbestehende emotionale Bindung an den vermeintlich oder tatsächlich Verstorbenen belegen würden, finden sich aber kaum.

Erst 1974 wurde diesem Vergessen ein Ende gesetzt. Der Schussenrieder Pflegevorsteher Albert Altherr organisierte eine Urlaubsfahrt von Patienten nach Südtirol. Bis 1987 sollten 14 weitere folgen, an ihnen nahmen auch Patienten aus Zwiefalten teil. Das Ziel war, Kontakte herzustellen und den Patienten eventuell eine Rückkehr nach Südtirol zu ermöglichen.

Am Beginn der heute sogenannten „Aktion Altherr“ lebten in württembergischen Anstalten noch 37 Südtiroler Patienten. Nur von sieben waren Angehörige bekannt, von 26 Patienten konnten im Zuge der Aktion Angehörige ausgeforscht werden. Sechs bis neun Patienten, dies ist nicht ganz klar, konnte schließlich eine Rückkehr nach Südtirol ermöglicht werden, entweder zu Familien, zumeist aber in Altersheimen, wie im eingangs erwähnten Fall von Herrn G. Dessen Angehörige konnten brieflich nicht ermittelt werden, weshalb auf der zweiten Südtirolfahrt im September 1975 sein Heimatort im Vinschgau aufgesucht wurde. Der begleitende Arzt, Pfleger Altherr und Herr G. begaben sich zum Bauernhof, den einst ein Onkel und eine Tante des Patienten bewirtschaftet hatten. Hofbesitzer war aber nun ein Cousin von Herrn G. Dieser zeigte sich überaus abweisend, geradezu aggressiv, weil – so Altherr in seinem Bericht – er „glaubte, daß durch Bekanntwerden der Existenz unseres Patienten ihm geschäftliche und gesellschaftliche Nachteile entstehen würde.“3

Ein solcher Vorfall war aber die Ausnahme. Andere Dorfbewohner und auch die Gemeindeverwaltung reagierten positiv auf den Besuch von Herrn G., später wurde ihm dann der Platz im Altersheim angeboten.

Es gab bei diesen Fahrten viel Wiedersehensfreude, vor allem weil man das Familienmitglied tot bzw. ermordet glaubte. Vielleicht spielte für diese positive Reaktion die zeitliche Dimension eine Rolle, d. h. das Heranwachsen einer neuen Generation und die Überwindung der Nachkriegszeit.

Manche Angehörige scheuten jedoch die definitive Aufnahme eines psychisch kranken Familienmitglieds, auch die finanzielle Belastung wurde gesehen und oftmals fehlte schlichtweg der Platz. Dazu kam ein nicht mehr rückgängig zumachender Entfremdungsprozess auf beiden Seiten.

Wie waren die Reaktion des offiziellen Südtirol? Dazu sei eine Sozialassistentin der Sanitätseinheit Ost zitiert, die 1987 zum Abschluss der „Aktion Altherr“ resümierte:

Vonseiten der zuständigen Stellen in Südtirol war auch nicht nur Unterstützung da. Es wurden kritische Stimmen laut: hat es einen Sinn, Menschen nach über 30 Jahren noch einmal zu verpflanzen, auch wenn dies ihre Heimat ist? Wie ist es möglich, sie wieder einzugliedern, da sie zum Großteil staatenlos sind? Werden die bürokratischen Wege nicht zu lange dauern, so daß diese Menschen vorher sterben oder nicht mehr reisefähig sein werden?“4

Ein anderer damaliger Sozialassistent erinnert sich heute noch an eine Heimatfernen-Sitzung des KVW um das Jahr 1980, an der auch Landeshauptmann Silvius Magnago teilnahm. Den Vorschlag, die Patienten allesamt nach Südtirol zu überführen, wies der Landeshauptmann mit dem Hinweis auf Kosten und Renten entschieden zurück. Dies hinderte Magnago aber nicht, dem Pfleger Altherr für seine Patientenfahrten brieflich zu danken.

Vor zehn Jahren wurden in St. Ulrich die sterblichen Überreste von Pepi Demetz beigesetzt. Er war Teilnehmer des Pergine-Transportes vom Mai 1940 gewesen und im Psychiatrischen Krankenhaus Zwiefalten verstorben, eine Rückkehr nach Südtirol war aber erst nach seinem Tod möglich gewesen. Auf der kleinen Gedenkfeier auf dem Ortsfriedhof von St. Ulrich meinte der damalige Vorstand der Innsbrucker Psychiatrischen Universitätsklinik Hartmann Hinterhuber, „das offizielle Südtirol habe die Rückkehr der Patienten aus Württemberg behindert“. Und er fragte, warum es keinen Gedenkstein für die umgesiedelten psychisch Kranken gäbe.5

Diese Frage ist berechtigt. An der Außenfassade der Pfarrkirche von Oberammergau wurde nach dem Zweiten Weltkrieg eine Erinnerungstafel für jene 36 Südtiroler angebracht, die im dortigen Südtiroler Altersheim verstorben sind. In Südtirol fehlt etwas Vergleichbares. Die Frage stellt sich: Will Südtirol sich nicht erinnern, sondern vergessen?

Ich habe versucht, die individuelle und kollektive Vergessensdynamik in drei Schritten aufzuzeigen:

  1. Das Vergessen der Psychiatriepatienten von Pergine in der Zwischenkriegszeit: Dieses zeigt, dass die Abschiebung, die Abdrängung oder Verdrängung von psychisch Kranken nicht unbedingt eine nationalsozialistische Besonderheit ist. Sie hat sich auch nach 1945 fortgesetzt. Noch 2004 wies Prof. Hinterhuber nachdrücklich auf die damals 43 vergessenen Südtiroler Patienten im psychiatrischen Krankenhaus Pergine hin.6

  2. Das Vergessen der umgesiedelten alten und kranken Südtiroler: Die NS-Ideologie sowie der Umstand, dass die Umsiedlung der sogenannten „Minderwertigen“ von der ADO und der ADERST durchgeführt wurde, hat das Vergessen stark befördert und in einem gewissen Sinne legitimiert.

  3. Das Vergessen der Nachkriegszeit, das durch die weit verbreitete Meinung der Ermordung der Alten und Kranken gestützt wurde, aber zumindest bei den psychisch Kranken auch auf deren „Anderssein“ beruhte.

Abschließend noch ein kurzer Blick in die Wissenschaftsgeschichte. Vergessen worden ist die Thematik der Absiedlung der kranken und alten Menschen denn auch viele Jahre lang von der Historiographie.

Leopold Steurer gebührt das große Verdienst, sich 1982 als erster der Thematik angenommen zu haben.7 Karl Stuhlpfarrer widmete der Absiedlung der Alten und Kranken in seiner großen Umsiedlungsstudie von 1985 ebenfalls einige wenige Seiten.8

Es ist jedoch Giuseppe Pantozzi zu verdanken, Jurist im Assessorat für Gesundheitswesen der Provinz Bozen, der 1989 den großen Pergine-Transport vom Mai 1940 genauer untersuchte und auf Grund von Informationen aus dem Psychiatrischen Krankenhaus Schussenried nachweisen konnte, dass die Südtiroler nicht Opfer der T4-Krankenmordaktion der Nazis wurden, sondern aufgrund des „Haftzustandes“, wie Pantozzi die Unterbringung der Südtiroler in den deutschen Anstalten charakterisiert, eine dramatisch hohe Sterberate aufwiesen.9

Die Erkenntnisse Pantozzis wurden damals jedoch kaum wahrgenommen.

Die große Ausstellung „Option-Heimat-Opzioni“ 1989/90 in Bozen, an der ich selber beteiligt war, hat das Thema ausgespart. In der Ausstellung wurde nicht darauf hingewiesen, der Katalog widmet der Thematik ein Dutzend Zeilen.10

Es ist einem Nichthistoriker, nämlich dem bereits erwähnten Psychiater Prof. Hartmann Hinterhuber zu verdanken, die Erkenntnisse um das Schicksal der psychisch kranken Südtiroler 1995 in einer Publikation für eine breitere Öffentlichkeit aufbereitet zu haben.11 Im selben Jahr fand auch eine wichtige Tagung des Verbandes Angehöriger und Freunde psychisch Kranker dazu statt.12

Es sollte aber noch einmal zehn Jahre dauern, bis die Geschichtswissenschaft die Thematik verstärkt in den Blick nahm. Nun wurden Diplomarbeiten13 verfasst und Ausstellungen14 organisiert. Hervorzuheben ist das erst kürzlich abgeschlossene Interreg-Projekt „Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol-Südtirol von 1830 bis zur Gegenwart“, das von 2008 bis 2011 an der Universität Innsbruck lief.15 Am laufenden Forschungsprojekt, das aus dem Wiederauffinden des vergessenen Friedhofs auf dem Gelände des Psychiatrischen Krankenhauses Hall hervorgegangen ist, beteiligt sich auch das Südtiroler Landesarchiv.16

Es hat also sehr lange gedauert, bis sich die akademische Historikerzunft einem schwierigen Kapitel Südtiroler Geschichte zuwandte. Dass die Südtiroler Gesellschaft so lange die Absiedlung der kranken und alten Südtiroler im Zuge der Option von 1939 vergessen konnte, ist damit auch der Geschichtswissenschaft zuzuschreiben.

1 Pantozzi, Giuseppe, Die Verschleppung der Psychiatriepatienten aus Pergine nach Zwiefalten (26. Mai 1940), in: Wahnsinn und ethnische Säuberung. Deportation und Vernichtung psychisch Kranker aus Südtirol 1939–1945, hrsg. vom Verband Angehöriger und Freunde psychisch Kranker, Bozen 1999, S. 43–47, hier S. 46.

2 Wilhelm Capello an das Bürgermeisteramt Zwiefalten, Ulm, 16. 2. 1961. Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg, Standort Zwiefalten, Patientenakt L., 3991.

3 Albert Altherr, Bericht zur Südtirolfahrt 1975. Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg, Standort Zwiefalten, Mappe Südtirol-Fahrten 1974–1988.

4 Regina Demichiel Nicolussi-Leck, Bruneck, 10. 9. 1987. Ebd.

5 „Pepi, hier darfst du bleiben!“ Dolomiten, 8. 3. 2004, S. 8.

6 Die vergessenen Südtiroler in Pergine. Dolomiten, 10. 3. 2004, S. 11.

7 Steurer, Leopold, Ein vergessenes Kapitel Südtiroler Geschichte. Die Umsiedlung und Vernichtung der Südtiroler Geisteskranken im Rahmen des nationalsozialistischen Euthanasieprogrammes, hg. vom Südtiroler Kulturzentrum Bozen, Bozen 1982 (Sondernummer der sturzflüge).

8 Stuhlpfarrer, Karl, Umsiedlung Südtirol 1939–1940 (2 Bde.), Wien/München 1985, S. 518–524.

9 Pantozzi, Giuseppe, Die brennende Frage. Geschichte der Psychiatrie in den Gebieten von Bozen und Trient (1830–1942), Bozen 1989.

10 Option Heimat Opzioni. Eine Geschichte Südtirols. Vom Gehen und vom Bleiben, Ausstellungskatalog, hg. vom Tiroler Geschichtsverein, Sektion Bozen, Bozen 1989, S. 198.

11 Hinterhuber, Hartmann, Ermordet und vergessen. Nationalsozialistische Verbrechen an psychisch Kranken und Behinderten, Innsbruck/Wien, 1995.

12 Wahnsinn und ethnische Säuberung. Deportation und Vernichtung psychisch Kranker aus Südtirol 1939–1945, hrsg. vom Verband Angehöriger und Freunde psychisch Kranker, Bozen 1999.

13 Karlegger, Selma, Südtiroler Kinder und Jugendlich als Opfer der „NS-Euthanasie“, phil. Dipl. Innsbruck, 2006.

14 „Ausgelöscht. Opfer der NS-Euthanasie aus Tirol, Vorarlberg und Südtirol“ an der Universität Innsbruck, 2004. http://www.zeg-ibk.at/Zeitschatten/zeitschatt/index.html.

15 Vgl. http://www.psychiatrische-landschaften.net.

16 Mittlerweile ist ein erster Forschungsbericht erschienen: Bertrand Perz u. a. (Hg.), Schlussbericht der Kommission zur Untersuchung der Vorgänge um den Anstaltsfriedhof des Psychiatrischen Krankenhauses Hall in Tirol in den Jahren 1942–1945 (Bd. 1), Innsbruck 2014.