Elisa Heinrich – Option und Geschlecht

Option und Geschlecht. Genderspezifische Handlungsräume in der Erinnerung von ZeitzeugInnen / Zeitzeugnissen

Von Elisa Heinrich

 

1.) Material und Fragestellung

Karin Hausen spricht in einem Aufsatz von 1998 von der Notwendigkeit, die Nicht-Einheit der Geschichte zu akzeptieren, wenn sie fordert, „die nach Herkunft und Lebenssituation ausgeprägte Unterschiedlichkeit von jungen und alten Menschen, von Frauen und Männern zusammen mit der Vielfalt der Möglichkeiten und Interessen der […] handelnden und sinnstiftenden Subjekte“i ins Zentrum historischer Untersuchungen zu stellen. Eine solche Forderung ist, so Hausen weiter, als Kritik an der Vorstellung so genannter Bindestrich-Geschichten zu verstehen, die eine Frauen- und Geschlechtergeschichte allzu schnell als einen Sonderfall oder eine Fleißaufgabe an den Rändern geschichtswissenschaftlicher Auseinandersetzung positioniert sehen will. Die von mir gestellte Frage nach der Bedeutung der Kategorie Geschlecht in den Erinnerungen von ZeitzeugInnen an die Südtiroler Option 1939 ist im Sinne Karin Hausens als Ausdruck der Notwendigkeit zu sehen, gerade auch im regionalgeschichtlichen Kontext ‚Geschlecht‘ als zentrales Strukturierungsprinzip historischer Abläufe anzuerkennen.

Basis für meine Untersuchung ist jenes Quellenmaterial von 70 leitfadenorientierten Interviews, die im Rahmen des Projekts zur Erinnerungsgeschichte an die Option an der Universität Innsbruck geführt wurden, und aus dem ich eine meinen Fragestellungen angepasste Auswahl getroffen habe. Die Auswahl wurde – kurz gesagt – über die Thematisierung von Geschlechterverhältnissen vorgenommen. Da keine expliziten Fragen an die InterviewpartnerInnen nach der Kategorie Geschlecht als Bezugspunkt ihrer Erfahrungen in der Optionszeit gestellt wurden, wurden jene Interviews ausgewählt, in denen Geschlechterbeziehungen und genderspezifische Rollenaufteilungen, wenn auch meist implizit, von den ZeitzeugInnen selbst zur Sprache gebracht wurden. Es muss dazu gesagt werden, dass meine hier erwähnten Beispiele auf Frauen fokussieren – nicht weil hier eine unreflektierte Gleichsetzung von „Geschlecht“ mit „Frauen“ geschieht, sondern weil versucht werden soll, einem in diesem Bereich zumindest noch immer dominanten Erinnerungsdiskurs, der hauptsächlich Männer als Akteure in Erscheinung treten lässt, das Handlungspotential und die Lebensrealitäten von Frauen entgegen zu setzen.

Meine Untersuchung des Materials zielt nun im Speziellen auf die Frage nach den geschlechts-spezifischen Handlungsräumen sowie nach der Bedeutung politischer Vorgänge im Alltag der historischen Subjekte ab. Welche Rollenzuweisungen und welche Arten des Umgangs mit diesen – also Zustimmung, Dissens oder gar Widerstand – lassen sich finden? Wie wird generell über Frauen und Männer, in ihrer Funktion als Vorbilder, im Kontext eines Netzwerks oder in Abgrenzung zu ihnen gesprochen, wie werden diese Personen attribuiert? Und welche Handlungsoptionen ergeben sich für Frauen, trotz in vielen Fällen formal nicht gegebener Entscheidungskompetenz?

2.) Geschlecht im Kontext von Biographie & Erinnerung

Eine lebensgeschichtliche Erzählung lässt sich der Schweizer Historikerin May Broda zufolge als eine „konstruierte Erfahrungssynthese“ fassen: Es handelt sich dabei um einen Selektions- und Konstruktionsprozess, in dem bestimmte Erfahrungen hervorgeholt, andere ausgeblendet oder verworfen werden. Von der Gegenwart aus perspektiviert und interpretiert werden die einmal gemachten Erfahrungen nicht nur neu gedeutet, sondern als solche auch immer wieder umgearbeitet und in eine kohärente Form gebracht.

Gerade in diesem Prozess des Schematisierens von Erfahrungen – und die Interviewsituation bewirkt eben eine solche Rekapitulierung und Schematisierung -, spielt Geschlecht eine wichtige Rolle. Dabei ist gerade bei Erzählungen Vorsicht geboten, die auf den ersten Blick bestehende Geschlechterstereotypen affirmieren, da diese oft Auskunft darüber geben, welche Geschlechterlogiken einen bestimmten Lebenskontext (Wahl des Berufs, Aufteilung von Pflichten innerhalb einer Familie, Freizeitbeschäftigungen) strukturierten. Es geht also darum, die in lebensgeschichtlichen Erzählungen enthaltenen gesellschaftlichen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit nicht nur zu erkennen und sozusagen der individuellen Biographie der/des Erzählenden anzuheften, sondern sie zu dekodieren als etwas, das über die gesellschaftlichen Verhältnisse und Strukturen, in denen sich die Individuen beweg(t)en, Auskunft geben kann. Zugleich werden die ErzählerInnen aber auch als AkteurInnen innerhalb dieser Strukturen fassbar: Es wird möglich, danach zu fragen, wie bestimmte Muster, Vorstellungen und Erwartungen individuell interpretiert, gedeutet und gelebt wurden.

3.) Forschungsstand

Als wichtige Vorbedingung für gesellschaftliche Machtverhältnisse während der Optionszeit ist, auch was Geschlechterverhältnisse betrifft, die Zeit des faschistischen Regimes in Südtirol zu sehen. Sowohl die faschistische Entnationalisierungspolitik als auch die Kontrapropaganda der deutschen Sprachgruppe war auf eine starke Betonung und symbolische Aufladung der Rolle der Mutter angelegt. In der Gruppe der deutschsprachigen SüdtirolerInnen kam eine Symbolisierung der Mutter als primäre Bewahrerin von Sprache und Kultur hinzu, was sich besonders in der Rolle der so genannten ‚Katakombenlehrerinnen‘ zeigte. Wie Siglinde Clementi resümiert, kam es im Zuge der faschistischen Entnationalisierungspolitik und dem sich daraufhin organisierenden Widerstand der deutschsprachigen Bevölkerung „keineswegs [zu] einer Neubestimmung oder zumindest Infragestellung der Geschlechterrollen.“ Die ohnehin durch den großen Einfluss der katholischen Kirche in Südtirol sehr ausgeprägte Geschlechterhierarchie wurde weiter verstärkt, die Rolle der Mütter noch weiter ideologisch aufgeladen.

Was nun die Zeit der Option selbst betrifft, ist zunächst festzuhalten, dass Frauen und Männer nicht in gleichem Maße optionsberechtigt waren. So waren volljährige, unverheiratete und gerichtlich geschiedene Frauen selbständig optionsberechtigt, ebenso Witwen und solche Frauen, die nicht mit ihrem Ehemann zusammenlebten und finanziell nicht durch ihn erhalten wurden. Verheiratete Frauen allerdings waren an die Entscheidung des männlichen Haushaltsvorstandes gebunden, der für die Ehefrau und eventuell vorhandene minderjährige Kinder mitabstimmen konnte. Neueste Untersuchungen einzelner Gemeinden zeigen allerdings, dass der Anteil optionsberechtigter Frauen möglicherweise höher war als bisher angenommen.

4. Geschlechtsspezifische Handlungsräume

Wie erwähnt frage ich nun in den folgenden Beispielen nach dem in verschiedenen Zusammenhängen auftretenden Handlungspotential, dem Umgang mit geschlechtsspezifischen Rollenerwartungen sowie der Bedeutung politischer Vorgänge und Entscheidungen in den Biographien der Zeitzeuginnen.

Generell ist davon auszugehen, dass Frauen wie Männer die Optionszeit als Bruch ihrer Biographien erlebten und es in dieser Zeit bis zu einem gewissen Grad notwendig wurde, sich mit politischen Zusammenhängen und Veränderungen sowie den daraus für die eigene Lebensrealität resultierenden Konsequenzen zu befassen. Auch wenn ein Teil der Südtirolerinnen von der Optionsentscheidung formal ausgeschlossen war, ist selbstverständlich davon auszugehen, dass sich Frauen wie Männer eine Meinung zu den auf sie einwirkenden politischen Ereignissen bildeten und eine Position dazu entwickelten. Es geht also immer wieder darum, das Politische in den Entscheidungen der interviewten Frauen aufzuspüren, auch wenn es „in alltagspragmatische Interpretationsbereiche übersetzt [wird] und sich so auf den ersten Blick kaum als politische Positionierung zu erkennen gibt.“ii

Ein anschauliches Beispiel in diesem Zusammenhang ist die Figur der Mutter, die in den meisten Interviews eine Rolle spielt, da die von uns befragten ZeitzeugInnen zur Optionszeit bis auf wenige Ausnahmen jünger als 18 Jahre alt waren und damit die Einstellungen, Debatten und Entscheidungen der Elterngeneration die eigene Wahrnehmung oft beträchtlich prägten. Obwohl viele der ZeitzeugInnen in vergleichbarem sozialen, wenn auch ökonomisch unterschiedlichem Umfeld, meist im ländlichen Raum aufwuchsen und – bis auf einige Ausnahmen – eine größere Anzahl an Geschwistern hatten, sind die Darstellungen der Mütter und ihrer Rolle im Entscheidungsprozess sehr divers.

Manche Mutterfigur erscheint als ‚Bewahrerin‘, die die Heimat nicht verlassen, sich und ihre Familie einer solchen Veränderung mit unbekannten Konsequenzen nicht aussetzen will. Elisabeth Plattner Hafner, Jahrgang 1925, etwa beschreibt ihre Mutter im Kontext der Optionsentscheidung mit den folgenden Worten: „Meine Mutter hat immer gesagt – der Vater hat damals nicht mehr gelebt, – sie hat gesagt, ihr könnt alle tun wie ihr wollt – ich wähl nicht und ich geh auch nicht weg von da, außer wenn sie mich wegtragen.“ (Interview 19.08.2013)

Frau Hafners Mutter hebt sich von anderen Beschreibungen ab, weil sie ihren Wunsch ‚dazubleiben‘ nicht innerhalb der Optionsentscheidung austragen will, sondern sich generell konsequent weigert, die ihr aufoktroyierte Entscheidung zu treffen, da sie diese für unsinnig hält. Dass sie schließlich am Silvestertag 1939, also am letztmöglichen Tag der Abstimmung, unter großem Druck durch ihren Bruder und die für sie arbeitenden Knechte doch für Deutschland optiert, und daraufhin den ganzen Neujahrstag nicht aus dem Bett aufsteht, lässt ihre Position nicht weniger konsequent erscheinen.

Andere Mütterfiguren werden als Motor für die Auswanderungiii oder sogar als „ausgesprochener Nazi“iv bezeichnet; sie werden demnach als Frauen vorgestellt, die sich innerhalb der Familie für ein Optieren für Deutschland, in einigen Fällen auch für das Auswandern stark machen, zum Teil eben gerade aus pro-nationalsozialistischen Motiven. Die Zeitzeugin, Theresia Sanin, Jahrgang 1930, wiederum erinnert sich daran, dass ihre Mutter einem Nachbarn kurz vor Ende des Krieges zuredet, er möge sich verstecken und nicht mehr einrücken, da der Krieg bald vorbei sei, und entwirft damit ein Bild ihrer Mutter als weitsichtig und den anderen DorfbewohnerInnen ein Stück voraus. Eingebettet ist diese Erzählung in die Erinnerung an den Eindruck, den die deutschen Besatzer auf Frau Sanin und ihre Mutter machten: „Wir haben es ein bisschen als lächerlich empfunden, wenn sie – sagen wir – da als Befreier gefeiert worden sind, wo man, wir haben schon gedacht, der Krieg ist verloren, nicht? Soweit hat man gedacht, dass der Krieg verloren ist, oft einmal auch ein bisschen Schwarzhörer gehört, nicht, und dann wie die Frauen halt den deutschen Soldaten nachgerannt sind und so, das hat man schon ein bisschen als lächerlich empfunden. Und auch das ‚der deutsche Typ‘ dann auf einmal gewesen ist, zu mir haben sie dann auch gesagt, weil ich hab ein rötliches Haar gehabt und eben die dunklen Augen und die weiße Haut und dann hat einmal jemand gesagt ‚du bist ein richtiger germanischer Typ‘, nicht, so kindisch die Sachen oft im Dorf.“ (Interview 23.08.2013)

Dieser Ausschnitt ist für mich deshalb von Interesse, weil hier relativ explizit politische Positionen sichtbar werden: Sowohl der Hinweis auf das Hören des ‚Schwarzsenders‘ als auch die angedeutete Erhabenheit, die Frau Sanin in der Erzählung den deutschen Besatzern und jenen gegenüber, die ihnen ‚nachrennen‘, einnimmt, machen sichtbar, auf welche Weise die Zeitzeugin – zumindest im Nachhinein – ihren Alltag für sich und ihre Mutter politisch interpretierte und eine politische Meinung zu den Ereignissen entwickelte.

Für die Zeitzeugin Regina Stockner, die im Jahr 1939 dreizehn Jahre alt ist, kann dies in noch deutlicherem Maß festgestellt werden. Frau Stockner verbindet in dieser Zeit eine enge Freundschaft mit dem einzigen anderen Mädchen aus ihrem Dorf, das mit ihr gemeinsam täglich Milch in die nächstgelegene Stadt trägt, um sie an verschiedene Haushalte zu verteilen. Paula, die bei Zieheltern aufwächst, die für Italien optieren, und Frau Stockner, deren Familie „deutsch“ bleiben will, also eine Option für Deutschland favorisiert, diskutieren bei der Arbeit häufig über die Option. Die Zeitzeugin wählt in diesem Zusammenhang sogar mehrmals das Wort „politisieren“. Bemerkenswert ist, dass Frau Stockner das Verhältnis zu ihrer Freundin und die Diskussionen, die ihre Freundschaft im entsprechenden Zeitraum prägen, eigenständig erinnert. Obwohl ihre Eltern und Paulas Zieheltern sich über die Option austauschen und gegenseitig von der jeweils eigenen Position überzeugen wollen, ist die politische Auseinandersetzung eine, die in der Erinnerung der Zeitzeugin zwischen ihr und Paula stattfindet. Über die Diskussionen innerhalb der Familie sagt Frau Stockner „Wir haben uns nicht entscheiden können.“ und schließt sich damit in die Entscheidungsfindung selbstverständlich mit ein, statt sie an die Eltern oder den Vater zu delegieren. Auch in anderen Zusammenhängen werden die Handlungsräume sichtbar, die das Mädchen bzw. die junge Frau für sich in Anspruch nimmt, wenn sie mit Zuschreibungen aufgrund ihres Geschlechts konfrontiert wird.

Als ein weiteres Beispiel soll hier die Erzählung über ein versuchtes Zusammentreffen der Familie mit der ausgewanderten Großmutter auf dem Brenner dienen. Die Großmutter war noch vor dem Rest der Familie nach Nordtirol ausgewandert, war dort aber recht unglücklich, weshalb ein Zusammentreffen mit dem noch in Südtirol lebenden Teil der Familie auf dem Brenner vereinbart wurde. Die Zeitzeugin erzählt, dass sie statt ihres Vaters mitgefahren sei, weil sie als Einzige Italienisch gesprochen habe. Am Brenner sei man allerdings durch Grenzschranken so weit von einander entfernt gestanden, dass eine Verständigung unmöglich gewesen sei. Frau Stockner berichtet nun in diesem Zusammenhang: „Nachher haben die Grenzbeamten gesagt, wenn ich hinunter gehe in das Büro von den Grenzleuten und den Brigadier persönlich frage, wenn derjenige es erlaubt, dann dürfen wir halt hinübergehen. Also bin ich hinunter. Dort war ein ganzer Raum voller Männern, die mich nur zum Narren gehalten haben. Ich bin ja erst vierzehn Jahre alt gewesen. Da hat einer gesagt ‚se mi dai un bacio‘, dann darf ich rüber gehen. Ja, dann bin ich aber zornig gewesen. Dann war halt nichts mit rübergehen.“

Dieser Ausschnitt aus den erzählten Erinnerungen Frau Stockners ist nicht nur ein eindrückliches Beispiel für die Lebenssituation einer jungen, deutschsprachigen Südtirolerin während der Optionszeit, sondern zeigt auch gerade die individuelle Deutung und den kritischen Umgang mit den an sie herangetragenen geschlechtsspezifischen Rollenanforderungen.

5.) Fazit

Generell kann an die Arbeiten von Martha Verdorfer und Sabine Schweitzer anschließend festgehalten werden, dass Männer zwar in weit höherem Maß die formale Entscheidung der Option treffen konnten, die Umsetzung dieser Entscheidung, insbesondere wenn sie in eine Umsiedlung mündete, aber mehrheitlich von Frauen getragen wurde. Die Vorbereitungen zur Abreise, die Abwicklung von Möbeltransporten, die verschiedentlichen logistischen, aber auch sozialen Anforderungen bei der Ankunft in der ‚neuen Heimat‘ fielen in den Handlungsbereich von Frauen. Ebenso oblag ihnen häufig die oft komplizierte Kommunikation zwischen Teilen der Familie, die (noch oder bereits) an unterschiedlichen Orten wohnten, sowie die Planung und Abwicklung von Treffen auf der Brennergrenze oder illegalen Grenzübergängen. Demnach ist die Praxis der Umsiedlung als mehrheitlich von Frauen geprägt zu fassen.

Aber nicht nur das: wie im Überblick zum Forschungsstand angeklungen ist, würde sich wohl ein erneuter Blick in die Gemeindearchive lohnen, da hier vielleicht – das ist natürlich zum jetzigen Zeitpunkt nur eine erste Vermutung – noch Überraschungen in Bezug auf die Entscheidungskompetenzen von Frauen in dieser politischen Umbruchphase möglich wären.

Ein weiteres, wichtiges Ergebnis meiner Forschung stellt die Diversität der Handlungsspielräume dar, die Frauen zur Verfügung standen und die sie entlang oder entgegen der an sie gestellten Rollenanforderungen als Mütter, Töchter, Freundinnen und Ehefrauen nutzten oder nicht. Es zeigte sich, dass das populäre Narrativ der von der Entscheidung ausgeschlossenen, oft an den Zusammenhängen uninteressierten Ehefrau und Mutter, die den möglichen Verlust der Heimat still beweint, in den Bearbeitungen der Vergangenheit der interviewten ZeitzeugInnen ebenso oft vorkommt wie das diesem Narrativ entgegengesetzte Motiv. Die sich in einer biographischen Erzählung verwirklichenden Lebensbedingungen und -möglichkeiten eines Subjekts müssen gerade in Hinblick auf die Dimension Geschlecht immer in einem mehrteiligen Zugriff analysiert werden: Umgeben von welchem gesellschaftlichen Kontext kann jemand welche Entscheidungen treffen und wie entscheidet sie/er sich dann. Wie im Rahmen der Analyse verschiedener biographischer Beispiele dargelegt wurde, ist es auf diese Weise möglich, eine Aussage über die strukturellen Bedingungen zu treffen, in denen ein Individuum agiert, zugleich aber auch zu zeigen wie die Person mit diesen Strukturen umgeht, welche Räume sie nutzt, ob sie sich zustimmend oder ablehnend oder gar widerständig bestimmten Bedingungen gegenüber verhält.

Die Herausforderung besteht also darin, Geschlecht als zentrales gesellschaftliches Strukturierungsmerkmal in regionale zeithistorische Forschungen hineinzutragen und konsequent damit zu arbeiten. Wie Karin Hausen bemerkt, ist schließlich „[d]ie Entscheidung darüber, was als geschichtsmächtig in der historischen Erinnerung aufbewahrt und was als unwichtig dem Vergessen anheimgegeben werden soll, […] in ihren Voraussetzungen und Konsequenzen eine politische Entscheidung.“v

 

i Karin Hausen, Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung. Zur historischen Relevanz und Anstößigkeit der Geschlechtergeschichte. In: Hans Medick/Anne-Charlott Trepp (Hg.), Geschlechtergeschichte und allgemeine Geschichte: Herausforderungen und Perspektiven, Göttingen 1998, S. 15–55, hier S. 35.

ii Ursula Lüfter/Martha Verdorfer/Adelina Wallnöfer, Wie die Schwalben fliegen sie aus. Südtirolerinnen als Dienstmädchen in italienischen Städten 1920 – 1960, Bozen 2011, S. 361.

iii Interview mit Hermann Oberparleiter, Jahrgang 1934, 25.08.2013.

iv Interview mit Johann Fischer, Jahrgang 1927, 20.08.2013.

v Hausen, Nicht-Einheit, S. 41.