Jg. 1946
Claus Gatterer ist, nachdem er in Wien war, von der intellektuellen Elite in Südtirol nicht mehr zur Kenntnis genommen worden. Nur von den damaligen Universitätsstudenten – also der jüngeren, ganz vereinfacht gesagt der ‘68er‘-Generation. Bevor meine Doktorarbeit 1980 erschienen ist und diese Sondernummer der Zeitschrift Föhn über Option, Umsiedlung, Widerstand, kam im Jahre ’79 diese Studie des Jesuiten Reinhold Iblacker, über die Person von Josef Mayr-Nusser heraus. Mayr-Nusser war Präsident der katholischen Jugend in Südtirol in den ‘30er Jahren, prominenter Dableiber, Antinazi. Er und seine kleine Gruppe in der katholischen Aktion haben schon sehr früh die Ideologie des Nationalsozialismus durchschaut und abgelehnt. Wir wissen ja, Mayr-Nusser hat bei seiner Einberufung zur Waffen-SS den Eid auf den Führer, die SS, verweigert, wurde deswegen wegen Wehrkraftzersetzung verurteilt und starb im Februar 1945 auf dem Transport ins Konzentrationslager Dachau. An der Person von Mayr-Nusser, an der Auseinandersetzung um seine Person, kann man die verspätete Auseinandersetzung Südtirols mit dem Nationalsozialismus ablesen. Die Gebeine Mayr-Nussers sind erst 1958 nach Südtirol überführt worden von Erlangen, und überhaupt, die Figur Mayr-Nussers ist in der Öffentlichkeit – außer im kleinen Kreis der katholischen Jugend –, vom offiziellen Südtirol überhaupt nicht zur Kenntnis genommen worden. Jetzt erschien im Jahre ’79 dieses Buch des Jesuiten Iblacker: Typischerweise arbeitete nicht ein Südtiroler diese kritische Periode auf. Dieses Buch hat damals eine große Diskussion ausgelöst. Der Chefredakteur der Dolomiten, Josef Rampold, beziehungsweise ein SVP-Politiker haben damals wörtlich gesagt: Es wäre besser, dass dieses Buch nicht geschrieben worden wäre, weil es nur alte Wunden aufreißt. Damit sind wir wieder beim Thema, dass eine kritische Geschichtsschreibung – das trifft überall zu, wo sie beginnt sich durchzusetzen –, notwendigerweise alte Wunden anrühren muss und deswegen Schwierigkeiten hat, sich durchzusetzen. Es beginnen dann die ‘80er Jahre – weitere Publikationen, in denen die Diskussion über Südtirol, Option, Zweiter Weltkrieg, Widerstand und so weiter, fortgeführt wird. Es gibt dann auch die ersten Filme zu Beginn der ‘80er Jahre. Das geht dann bis zur Optionsausstellung von 1989. Hier in Südtirol gibt es recht kritische Journalisten, zum Beispiel beim RAI Sender Bozen. Gerd Staffler hat damals begonnen mit der kritischen Aufarbeitung der Geschichte des Landes, ich habe ihn dabei ein bisschen beratend unterstützt. Er hat zwei Filme gemacht zu Beginn der ‘80er Jahre, der eine wurde im September 1983, zu 40 Jahre Besetzung Südtirols im September 1943 – also der Austritt Italiens aus dem Zweiten Weltkrieg, die Besetzung des Landes durch die Deutschen Truppen und die Errichtung der Operationszone Alpenvorland ausgestrahlt. Das hat damals Aufsehen erregt und auch große Diskussionen in der Öffentlichkeit. Ein zweiter Film war über Widerstand, über die Deserteure: „Sie sagten Nein.“ Dieser Film hat auch eine große Diskussion ausgelöst. Das waren die ersten Momente einer öffentlichen Auseinandersetzung mit großen Polemiken und Schwierigkeiten, vor allem wegen der offiziellen Meinung, vertreten durch die Tageszeitung Dolomiten. Aber das waren damals die Zeitumstände, und deswegen hat es sehr lange gebraucht, bis sich eine ruhigere Diskussion durchgesetzt hat, und das war dann erst möglich in den ‘90er Jahren.
Für die Ausstellung 1989 gab es natürlich einige wichtige Voraussetzungen: es hat damals Studenten gegeben, die gute Arbeiten geschrieben haben, in Wien, Innsbruck, auch in Italien. Dann ist natürlich 1984 [1985] das grundlegende Werk von Karl Stuhlpfarrer, zur Option und Umsiedlung in Südtirol herausgekommen, in dem zum ersten Mal die Option aus Dokumenten aus italienischen, deutschen und österreichischen Archiven dargestellt worden ist. Er hat damals eine fundamental neue Optik hereingebracht, und das war die Voraussetzung für die Optionsausstellung! Aber es gibt in den ‘80er Jahren auch zum ersten Mal auf italienischer Seite junge Historiker, die sich aus italienischer Sicht damit beschäftigten, nämlich: Wie hat die italienische Sprachgruppe damals den Faschismus, die Option erlebt? Deswegen hat die Optionsausstellung nicht nur den Vorteil gehabt, dass sie sich basieren konnte auf wirklich gute wissenschaftliche Recherchen der Jahre zuvor, sondern dass zum ersten Mal auch ein ausgewogenes Bild beider Sprachgruppen hineingebracht worden ist. In dieser Darstellung war nicht mehr die ethnische Polarisierung drinnen, die gegenseitigen Vorwürfe, die Schuld des Faschismus, die Schuld des Nationalsozialismus, etc. Das hat man auch gesehen an der Aufnahme, die Katalog und Ausstellung gefunden haben in beiden Sprachgruppen in der Presse. In dem Sinne war es tatsächlich ein Wendepunkt, nämlich, dass man gesagt hat, wir versuchen jetzt endlich einen Weg zu gehen zu einem Rückblick auf unsere Vergangenheit, mit der sich beide Sprachgruppen identifizieren können. Weil die Option war ein Musterbeispiel wie Diktaturen mit der öffentlichen Meinung, mit den Menschen umgehen.
Und was wir nicht vergessen dürfen, die günstigsten Voraussetzungen waren überhaupt die politischen Umstände. Im Jahre 1988 mit den Landtagswahlen ist die sogenannte Wehrmachtsgeneration in der Südtiroler Volkspartei endgültig abgetreten. Ich nenne nur zwei Namen: Silvius Magnago und Anton Zelger. In dem Augenblick, in dem diese Generation abtritt und bald die Meinungsmacher in der Presse, Leserbriefe etc. langsam schwächer werden, wird ein pragmatischerer Umgang mit der eigenen Vergangenheit möglich, auch in anderen Bereichen. Kaum dass der Ausstellungstermin, diese Monate vorbei waren, das haben sie noch erreicht, ist diese Ausstellung ja praktisch total abgebaut worden – was geblieben ist, ist der Katalog mit dem abgedruckten Material. Der große Film, „Verkaufte Heimat“ von Felix Mitterer war natürlich auch ein Wendepunkt! Was die Breitenwirkung betrifft, hundertprozentig. Es kommen dann auch Memoiren heraus in der ‘80er und ‘90er Jahren, sowohl von Optantenseite sowie von ehemaligen Nazis und natürlich auch von Widerständlern und KZlern, wie von Franz Thaler.