Julia Tapfer – Erinnerung an die Option – digitale ZeitzeugInnen-Interviews im Geschichtsunterricht

75 Jahre Südtiroler Option. Ein Gedenkjahr wie dieses rückt ein Ereignis für einige Zeit wieder verstärkt in den Fokus wissenschaftlicher Betrachtung und öffentlicher Diskussion. Das ist gut so, aber was sich als noch viel wichtiger – und auch schwieriger erweist – ist es, nach dem Gedenkjahr das Thema nicht wieder bis zum nächsten Jubiläum fallen zu lassen. Im öffentlichen Diskurs wird es 2015 wahrscheinlich um die Südtiroler Option wieder sehr still werden. Im Geschichtsunterricht sollte dies aber nicht geschehen, auch deshalb erarbeite ich derzeit Unterrichtsmaterialien für die Oberschule. Diese Erarbeitung erfolgt einerseits im Rahmen meiner Diplomarbeit am Institut für Zeitgeschichte, die den Titel „Erinnerung an die Südtiroler Option – digitale ZeitzeugInnen-Interviews im Geschichtsunterricht“ tragen wird, andererseits in Zusammenarbeit mit Walter Pichler, Mitarbeiter des Bereichs Innovation und Beratung des Deutschen Bildungsresorts in Südtirol, der laufende Projekte zur Geschichte und Politischen Bildung sowie den History-Pool, ein Portal für Südtiroler Geschichtslehrpersonen mit Unterrichtsmaterialien, betreut.

Oral-History: zum Umgang im Geschichtsunterricht

Der Wert von Oral History in der Schule wurde in den letzten Jahren verstärkt erkannt. Oral History bietet so etwa Einblicke in die Alltagsgeschichte, persönliches Empfinden oder Interpretationen, die andere Quellen oft nicht zulassen. Besuche von ZeitzeugInnen waren schon oft Highlights im Geschichtsunterricht. Die SchülerInnen sind dabei ForscherInnen und können selbst Fragen stellen und ein Interview führen. Die Fragekompetenz wird so geschult. ZeitzeugInnen in die Klasse einzuladen, ist deshalb zwar sehr gewinnbringend, aber auch aufwändig und oft fehlt auch schlicht eine dafür geeignete Person.

Wenn man heute von ZeitzeugInnen spricht, meint man meistens ZeugInnen aus der NS-Zeit. Es soll darauf hingewiesen sein, dass es natürlich aus jeder Zeit ZeitzeugInnen geben kann. Im gegebenen Fall der Südtiroler Option ist es aber wieder die nationalsozialistische bzw. faschistische Zeit in Südtirol. Daraus ergibt sich das Problem, dass es bald keine ZeitzeugInnen mehr geben und das direkte Gespräch so in einigen Jahren auch nicht mehr möglich sein wird.

Das Projekt „75 Jahre Südtiroler Option: 1939 und die Folgen – Rezeption, Erinnerungs- und Erfahrungsgeschichte, museale Darstellung“ von Eva Pfanzelter am Institut für Zeitgeschichte hat die Notwendigkeit erkannt, die Erinnerungen von ZeitzeugInnen an die Südtiroler Option auf Video aufzuzeichnen, um sie nicht zu verlieren, sondern als Quellen zu konservieren. Diese sind dann nicht nur für die wissenschaftliche Forschung sehr wertvoll, sondern auch für den Gebrauch in der Schule.

Durch viele – auch sehr lobenswerte – Projekte (an dieser Stelle sei auf erinnern.at verwiesen) gibt es immer mehr Video-History und Oral-History, was zu einer „Digitalisierung der Erinnerung“[1] und zu einer Vielzahl von Quellen führt. Deshalb ist es wichtig, dass junge Menschen lernen, mit diesen umzugehen, Kompetenzen dafür erwerben: das heißt etwa, dass Grundbegriffe bekannt sind, wie die Bruchstückhaftigkeit jedes Erinnerns, die Überlagerung der Erinnerung durch spätere Informationen oder schlichtweg auch das bewusste Ausschweigen manches Erlebten.[2]

Auch wenn Oral History mittlerweile ein zu Recht besseres Ansehen erhalten hat, als noch vor einigen Jahrzehnten, können die Erinnerungen von ZeitzeugInnen doch nie die „höchste Autorität im Prozess der Re-Konstruktion der Vergangenheit“[3] für sich beanspruchen. Sie müssen eingebettet werden und können nicht die einzige Informationsquelle sein, auf Darstellungstexte und Zusatzinformationen aus anderen (Text)Quellen kann nicht verzichtet werden.

Vor- und Nachteile

Im Folgenden seien Live-Interviews von SchülerInnen und digitale ZeitzeugInnen-Interviews kurz gegenübergestellt, um Vor- und Nachteile zu skizzieren.[4]

Digitale Interviews bringen den Vorteil, dass das Lernarrangement im Voraus planbar ist: Zusatzinformationen können eingeholt werden, abgestimmte Arbeitsaufgaben vorbereitet werden. Auch ein etwas distanzierteres Betrachten der Videos ist möglich, das etwa nicht so sehr durch Respekt und Taktgefühl eingeschränkt ist, wie wenn die betreffende Person gegenübersitzt. Dem gegenüberstehend sind Liveinterviews menschlich unmittelbarer und authentischer, wenngleich die „objektive Distanz“ oft schwierig einzuhalten ist. Zu leicht lässt man sich mitreißen und sieht das Erzählte als Fakt an. Oft nimmt man das Erzählte nicht als eine Perspektive von vielen möglichen wahr – das kann aber auch bei digitalen Interviews passieren. Auch deshalb ist es wichtig, den Umgang mit diesen Quellen mit SchülerInnen zu erproben.

Durch die Möglichkeit der mehrfachen Wiederholung von digitalen Interviews wird es erst möglich, auf parasprachliche Besonderheiten zu achten: Sprechgeschwindigkeit, Lautstärke, Betonungen, Verzögerungen oder Stottern sind in einem Live-Interview oft kaum zu bemerken und fixieren. Zu sehr muss dabei auf den Inhalt geachtet und gleichzeitig überlegt werden, welche Frage man dem/der Zeitzeugen/in als nächstes stellen möchte. Damit ist auch schon ein Nachteil der digitalen Interviews aufgezeigt, nämlich dass eigene Fragen der SchülerInnen nicht gestellt werden können. Man muss sich mit den Interviewfragen der/des Interviewers/in begnügen. Aber auch diese Erfahrung ist für die SchülerInnen wichtig, da sie so mit dem Medium vertraut werden und erkennen, dass dies eben nur eine einzelne Perspektive ist. In Aufgabenstellungen soll deswegen nicht vernachlässigt werden, auch zum weiteren Fragenstellen anzuregen. Selbst wenn diese nicht vom Zeitzeugen beantwortet werden, ist dies eine wichtige Übung. Wenn SchülerInnen versuchen, die Fragen dann selbst zu beantworten, ist das nicht bloß eine unnütze Spielerei, sondern schult das eigene Reflexionsvermögen und den Wissenstransfer.

Als wichtig gilt es auch, die Perspektiven des/der Interviewers/in zu hinterfragen: In Zukunft wird es immer wichtiger sein, zu berücksichtigen, wann das Interview geführt wurde, welcher Wissensstand damals vorherrschte.[5] Da die Interviews meist aber geschnitten sind, ist die Interviewführung oft nicht mehr nachvollziehbar. Dennoch werde auch ich mich bei den Videoausschnitten für den Schulgebrauch dafür entscheiden, kurze Videosequenzen abspielbar zu machen. Der Mehrwert ist für die Lehrpersonen eindeutig dadurch gegeben, dass diese 1:1 in einer Schulstunde erarbeitbar sind. Im Sinne einer größtmöglichen Praxisnähe und Umsetzbarkeit in der Schule entscheide ich mich hier also bewusst dagegen, das Interview ungeschnitten zu verwenden, um die Rolle des Interviewers erforschbar zu machen.

Zum Material

Aus den ungefähr 70 Interviews, die im Optionsprojekt an der Universität Innsbruck und in Zusammenarbeit mit den Vereinigten Bühnen Bozen geführt und aufgezeichnet wurden, habe ich für mein Vorhaben 18 ausgewählt, neun Frauen und neun Männer. Hier gab es aber nicht bloß den Genderaspekt zu berücksichtigen, sondern auch verschiedene die Optionsentscheidung betreffende Gruppen: grob unterschieden gab es die Optanten, also jene, die sich bis zum 31.12.1939 für das Deutsche Reich entschieden haben, und die Dableiber, die fürs Bleiben in Südtirol und damit für Italien stimmten oder überhaupt keine Stimme abgaben. Rund 86 % waren OptantInnen. Nun muss aber noch eine wichtige Unterscheidung vorgenommen werden: nämlich jene, die tatsächlich ausgewandert sind (was nur ein Bruchteil davon war) und jene, die nach dem Krieg wieder zurückwanderten. So ergeben sich vier Gruppen: sechs Interviews mit nicht ausgewanderten OptantInnen, und jeweils vier mit den ausgewanderten, rückgesiedelten und Dableibern.

Dieser Interviewkorpus bietet einerseits die Grundlage für meine Diplomarbeit, andererseits möchte ich die Videos so aufbereiten, dass sie im Geschichtsunterricht verwendet werden können. Konkret bedeutet dies, dass zu verschiedenen thematischen Scherpunkten Videoausschnitte vorbereitet und mit Aufgabenstellungen versehen werden, die in ein bis drei Unterrichtsstunden erarbeitbar sind. Bei der Aufgabenstellung orientiere ich mich an Peter Gautschis Kompetenzmodell[6] (der Wahrnehmungskompetenz, Erschließungskompetenz, Interpretationskompetenz und Orientierungskompetenz als leitende Begriffe darin festmacht), da dieses in Südtirol Anwendung findet. Da sich die meisten Kompetenzmodelle aber stark ähneln, ist eine Anwendung in österreichischen Schulen selbstverständlich auch problemlos möglich. Wichtig ist mir auch, dass die von mir zusammengestellten Aufgaben als Anregungen für die Lehrpersonen gesehen werden sollen, jede Aufgabenstellung kann auch individuell der Klasse angepasst werden und die Lehrperson kann die eigenen Präferenzen in anderen Erarbeitungsmöglichkeiten fokussieren.

Bevor hier ein abschließendes Beispiel Platz finden soll, ein Verweis auf die sehr hilfreiche, allgemeine Analyseanleitung im Medienbegleitheft des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur[7]. Diese Analyseschritte können Lehrpersonen ihren SchülerInnen als Handwerkszeug zur Bearbeitung von digitalen ZeitzeugInnen-Interviews mit auf den Weg geben. Da diese Analyse aber bereits sehr umfangreich ist, empfiehlt es sich, nicht bei jedem Ausschnitt alle Schritte durchzuexerzieren, da es sonst schnell mühsam werden kann.

Das folgende Videobeispiel soll exemplarisch für mein Vorhaben stehen und eine Vorstellung von dem zu erwartenden Ergebnis ermöglichen. Der Zeitzeuge Hermann Oberparleiter (Jahrgang 1934, Rücksiedler) erzählt von der Auswanderung, er war damals noch ein Kind. Die Familie kam auf einen tschechischen Hof, dessen Besitzer diesen verlassen mussten. Er erzählt von den Schwierigkeiten und vom Leben mit Magd und Knecht der Vorbesitzer. Der Sohn der Vorbesitzer besuchte die Familie Oberparleiter manchmal, wobei der junge Hermann Oberparleiter keinen Hass zu verspüren glaubte.

Mögliche Aufgabenstellungen in der Klasse

  • Skizziere in einigen Sätzen, woran sich der Zeitzeuge in Tschechien erinnert.
  • Teile den Ausschnitt in erzählende und reflektierende Passagen ein. Wo wird von einem Erlebnis berichtet, wann stellt der Zeitzeuge das eigene Handeln infrage?
  • Was sagt der Videoausschnitt über das Erinnern aus?
  • Wie beurteilt der Zeitzeuge die Entscheidung des Vaters auszuwandern? Was fällt dir an dessen Argumentation auf? Wertet er?
  • Welche Frage möchtest du dem Zeitzeugen noch stellen?
  • Wie beurteilst du die Aussage: „Die Politik ist so gewesen.“ Halte deine Einschätzung schriftlich fest und diskutiere sie danach mit deinem Banknachbar.
  • Kreative Arbeit: Verfasse einen Tagebucheintrag des Sohnes der ehemaligen tschechischen Besitzer des Hofes, den die Familie des Zeitzeugen bewirtschaftete.

 

Gerne nehme ich Anregungen und Wünsche von Lehrpersonen entgegen und beantworte Fragen zu meinen Ausarbeitungen: julia.tapfer@student.uibk.ac.at

[1] Christoph Kühberger: Oral History als „fertige Geschichte“ lesen. Zum Umgang mit Zeitzeugeninterviews in der Gedenkstättenarbeit. In: Didaktisch-methodische Hefte der ZAG (2007), Heft 1, Nr. 2, S. 2. Online abrufbar: http://www.erinnern.at/bundeslaender/oesterreich/e_bibliothek/gedenkstatten/809_DidaktischHefte_Nr2_Heft1_2007_OralHistory.pdf.

[2] Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur: Medienbegleitheft zum Thema ZeitzeugInnen im Film, Wien 2012. Online abrufbar: https://www.bmbf.gv.at/schulen/service/mes/thmbhzz_2012_23373.pdf?4grfy5.

[3] Kühberger: Oral History als „fertige“ Geschichte lesen. S. 3.

[4] Vor- und Nachteile von digitalen ZeitzeugInnen-Interviews finden sich auch im bereits genannten Medienbegleitheft des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur, sowie bei Kühberger ausgearbeitet.

[5] Kühberger: Oral History als „fertige“ Geschichte lesen. S. 4.

[6] Peter Gautschi, Jan Hodel, Hans Utz: Kompetenzmodell „Guter Geschichtsunterricht“ – eine Orientierungshilfe zur Angebotsplanung von Lehrerinnen und Lehrern. 2009. Online abrufbar: http://www.gymlaufen.ch/fileadmin/pdf/was/oa11/oa11_2011/Kompetenzmodell-Geschichte-OA2011.pdf

[7] Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur: Medienbegleitheft zum Thema ZeitzeugInnen im Film, S. 12 f.